Die Medizin der Emotionen

© Canva: Unsere Emotionen bestimmen zu einem Großteil unser Wohlbefinden.

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Die Erfolge der Schulmedizin bei akuten Krankheiten wie Brüchen, Lungenentzündung oder Blinddarmentzündung sind unbestritten und zählen zu den großen Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts. Dank der zunehmenden Hygiene, dem neuen Wissen im medizinischen Bereich und zahlreiche wirkungsvolle Medikamente mit möglichst geringen Nebenwirkungen muss heute in der westlichen Welt niemand mehr an Schnupfen oder schlechten Zähnen sterben. Im Bereich der chronischen Erkrankungen, zu denen auch psychischen Leiden zählen, sind Medikamente alleine meist keine Dauerlösung.

Wo sich Wissenschaft und Alternativheilkunde treffen

David Seran-Schreiber war als Psychiater an der renommierten Universität von Pittsburg tätig. Seine Doktorarbeit, unter der Aufsicht seiner Professoren Herbert Simon (einer der wenigen Nobelpreisträger für Psychologie) und James McClelland (Begründer der Theorie der Neuronengeflechte), wurde sogar im renommierten Science Magazin veröffentlicht. Seran-Schreiber wuchs also zu einem pedantischen Wissenschaftler heran, der dachte, die menschliche Psyche genau entschlüsseln zu können, wenn man sie nur akribisch genug erforschte. Doch seine Lehrjahre veränderten seinen Blick. In seiner Zeit in Indien und Tibet kam er mit den Lehren der Tibetischen Medizin in Berührung und war fasziniert: Psychisches Ungleichgewicht wurde dort mit Pulsdiagnostik, dem Aussehen der Zunge und der Farbe des Harns erkannt. Der einst so verkopfte Arzt erkannte, dass es für chronische Beschwerden einfachere und kostengünstigere Behandlungsmöglichkeiten gibt. Allen voran begeisterte er sich für die Alternativheilkunde für psychisches Ungleichgewicht wie Angst, Depression und Bipolare Störungen.

EMDR: Hilfe gegen Trauma, Depression, Angst und mehr

Ein echter Wendepunkt ist für ihn die Erzählung einer Bekannten: Sie hatte unter Depressionen gelitten und anstatt die verschriebenen Medikamente zu nehmen, eine (damals, Anmerkung) alternative Heilmethode versucht. Diese hatte ihr geholfen, ihre verdrängten Ängste und Sorgen zu erkennen und zu verarbeiten. Die Bekannte sprach vom EMDR, einer von Dr. Francine Shapiro aus Kalifornien stammenden Technik der Verhaltenstherapie, bei der Klienten in eine Art Trance versetzt werden und so besseren Zugang zu ihrem Unterbewusstsein erlangen.

Seran-Schreiber erklärt, warum diese Erzählung ein Wendepunkt in seinem Leben war:

„Ich freute mich für sie, gleichzeitig war ich entsetzt und enttäuscht. In all den Jahren, in denen ich das Gehirn, das Denken und die Gefühle untersucht hatte, um mich auf wissenschaftliche Psychologie, Neurowissenschaften, Psychiatrie und Psychotherapie zu spezialisieren, hatte ich nicht ein einziges Mal derart spektakuläre Heilerfolge erzielt. Und nicht ein einziges Mal war von dieser Therapie die Rede gewesen. Schlimmer noch: Die wissenschaftliche Welt, in der ich mich bewegte, entmutigte jegliches Interesse an derlei „ketzerischen“ Methoden. Sie galten als Scharlatanerie und waren daher der Aufmerksamkeit wirklicher Ärzte nicht wert, noch viel weniger ihrer wissenschaftlichen Neugierde.“
— David Seran-Schreiber über die Engstirnigkeit der Schulmedizin.

Der französische Arzt betont immer wieder, wie wichtig und sinnvoll die zeitlich begrenzte Einnahme von Psychopharmaka ist. In diesem Punkt teile ich seine Meinung voll und ganz: Wenn eine Depression so stark ist, dass der Betroffene kaum noch denken kann, ist Psychotherapie nur mit gemeinsam mit Medikamenten möglich. Wichtig ist die engmaschige fachärtzliche Begleitung durch einen erfahrenen Psychiater.

Seine weiteren Forschungen und Beobachtungen brachte David Seran-Schreiber mit dem Wissen über die Neurobiologie des menschlichen Gehirns in Verbindung und so kam er zu dem Schluss, dass es uns vor allem dann psychisch schlecht geht, wenn unser emotionales Gehirn leidet. Doch was genau versteht man darunter?

Das emotionale Gehirn

Im Inneren unseres Gehirn befindet sich das emotionale Gehirn – sozusagen ein „Gehirn im Gehirn“. Die Zellanordnung, die Struktur, die Funktionsweise sind anders als im umliegenden Bereich unserer Denkzentrale. Rund um das emotionale Gehirn hat sich im Laufe der Evolution der so genannte „Neokortex“ gebildet. In diesem „höher liegenden“ Bereich finden hoch komplexe Verarbeitungsmuster wie Sprache, komplexes Problemlösen und das bewusste Denken statt. Das tieferliegende emotionale Gehirn funktioniert in vielen Fällen unabhängig vom Neokortex: Darum ist es so schwer, den Gefühlen zu befehlen, dass sie uns jetzt endlich in Ruhe lassen sollen. Das emotionale Gehirn kontrolliert unser psychisches Wohlbefinden und reguliert zugleich viele Körperempfindungen :

Herzfunktion

  • Blutdruck

  • Hormone

  • Verdauung

  • Immunsystem

Dies erklärt auch, warum emotionaler Stress wie Angst, Deprimiertheit und Sorgen auf oft auf diese Körperbereiche einwirken: Wir haben Kopfweh (Blutdruck), Herzrasen, müssen dringend aufs Klo oder werden vor lauter Stress ständig krank.

Das emotionale Gehirn ist aus unserer biologischen Entwicklungsgeschichte betrachtet der ältere und zugleich der wichtigere Teil: Die Funktionen wie Herzschlag, Verdauung und Immunsystem sind ebenso überlebenswichtig wie unsere Gefühle, die unsere Antennen zu der Welt in der wir leben sind. Höhere Funktionen, die im Neokortex angesiedelt sind, leisten uns zwar als hoch entwickelte Lebensform sehr gute Dienste. Sie wären jedoch für das blanke Überleben in der wilden Natur nicht unbedingt nötig.

Warum sind wir so verletzlich?

Erleben wir im Laufe unserer Lerngeschichte (von der Kindheit bis zum heutigen Tage) schmerzhafte Erlebnisse wie Verluste, Trennungen, Traumata oder eine große Ansammlung an dauerhaften Stressfaktoren, so speichert unser emotionales Gehirn diese Erlebnisse. Unser Körper, der stets auf Überleben aus ist, macht dies nicht ohne Grund: Wenn uns schon einmal so eine schmerzliche Situation zugestoßen ist, bereitet er sich durch das Abspeichern eben dieser darauf vor, gegen ähnliche Verletzungen geschützt zu sein. Darum verändern solche Erlebnisse unsere Wahrnehmung sowie die unsere Art zu denken, zu fühlen und uns zu verhalten. Je nachdem, wie stark unser emotionales Gehirn durch eine oder mehrere Situationen in Alarmbereitschaft gebracht wurde, überdauert dieses Muster oft viele Jahrzehnte.

Zurück in die psychische Balance

Das angeborene Gehirn verfügt über eine natürliche Tendenz zur Selbstheilung. Nach einer belastenden Erfahrung kann es wieder in seine Balance zurück kommen, vorausgesetzt es kann sich gut erholen. Wenn eine schmerzende Erfahrung jedoch sehr belastend war, lange Zeit überdauert hat, die betroffene Person wenig Möglichkeiten zum Krafttanken hat oder schon mehrfach schmerzhafte Erfahrungen erleben musste, kann es sein, dass sie Selbstheilungskraft der Psyche so stark beansprucht wird, dass sie alleine nicht mehr in ihre Balance kommt. Ähnlich einer schweren Schnittwunde, die nicht mit einem kleinen Pflaster abgedeckt werden kann und von alleine verheilt, braucht es auch im Falle solch schwerer Verletzungen die Unterstützung von außen. Die persönliche Begleitung durch einen Psychotherapeuten kann diesen Prozess zurück zum psychischen Wohlbefinden sehr unterstützen.

Eine kinderleichter Erklärung darüber, wie unsere Emotionen unser Gehirn lenken, zeigt der Film “Alles steht Kopf”: